Tanzende
Skulptur
Der Performer, Tänzer und Choreograph Stefan Maria
Marb und sein
Projekt "Hong 32"; "Blindes Wasser"
Schon 1987/88 begann
Stefan Maria Marb zu choreographieren. Sein erstes Solo
1988, "Men of Good Fortune", bekam gleich
einen Preis beim Choreographie-Wettbewerb in Hannover.
Außerdem interessiert ihn die Form der Performance.
Insgesamt hat er 20 Performances mit seinem Partner
Matthias Renert auf öffentlichen Plätzen gemacht:
auf Weihnachtsmärkten, beim Münchner Tollwood-Festival,
in Büros. Kneipen und Discos. Seit 1991 ist er
auch Mitglied der Tanztendenz München, einem städtisch
subventionierten Choreographen-Kollektiv. Trotzdem ist
er nur Insidern bekannt. Marb ist ein ruhiger. in sich
ruhender Mensch. er läßt den Dingen Zeit,
auf ihn zuzukommen. Obgleich ein waschechter Münchner,
Jg. '63. entspricht seiner inneren Natur eher eine asiatische
Lebenseinstellung. Als er seinen ersten Kurs bei dem
japanischen Butoh-Meister Ko Murobushi besuchte, fühlte
er sich gleich "zu Hause". Seine Beschäftigung
mit dem ,,I-ching", dem 3000 Jahre alten chinesischen
Orakelbuch. inspirierte ihn zu dem fünf-teiligen
Zyklus "Hong 32". Teil 1 war letzte Saison
der beste Beitrag innerhalb der Münchner Szene.
Der 2. Teil "Blindes Wasser" hat am 16. Februar
im Münchner Tempel (Domagkstraße) Premiere.
Marb: "Es geht mir in diesem Zyklus um die Integration
von Ost und West. Das I -ching besteht aus 64 Hexagrammen.
Strich-Codes aus unterbrochenen weiblichen Jin- und
durchgehenden männlichen Jang-Linien. Diese Zeichen
sind abstrahierte Naturbilder. mit denen das Orakel
geworfen wurde... zum Wetter. zur Ernte, zu praktischen
Fragen. In dieser Orakel-Sprechung wird jedoch nicht
mit 'gut' und 'böse. gewertet. Sondern es werden
Prinzipien gegeben. Der Ratsuchende muß die für
ihn passende Interpretation selbst finden, muß
denkend aktiv werden." Das Hexagramm 32 bedeutet
"Dauer". So
hat es der Orakelforscher Richard Wilhelm übersetzt,
der das I-ching nach Europa gebracht hat. Marb zitiert:
"Die Dauer ist eine in sich geschlossene, stets
sich erneuernde Bewegung. Das Ende wird erreicht durch
Bewegung nach innen, das Einatmen. die Konzentration.
Der neue Anfang ist das Ausatmen, die Expansion."
Und erläutert: "Die Bewegung nach innen, das
ist für mich der Butoh- Tanz - der Osten. Der Westen
steht dagegen für die schnelle Bewegung. Hypermotorik
ist ein Merkmal des westlichen Modern Dance."
Das eine fasziniert ihn. aber das andere ist er auch.
"In Out" nannte er deshalb das 1991 mit Matthias
Renert gegründete Projekt ("eine Plattform
für Tanzperformances, Bühnenchoreographien
und Workshops"). Und wie man bisher in seinen Stücken
gesehen hat, kann der weiß gepuderte, kahlgeschorene
Marb, ganz butohmäßig nach innen tanzend,
sich bruchlos zu einem dynamisch explodierenden westlichen
Tänzer verwandeln. Allerdings behält sein
Tanz, trotz Tempo, eine ungeheure Muskel-Konzentration
-und dadurch starke Plastizität. Marb in Bewegung,
das ist wie tanzende Skulptur.
Dabei hat er nach dem Abitur" überhaupt nicht
ans Tanzen gedacht". "Ich hatte zwar Sport
als Leistungskurs und habe immer viel Sport getrieben,
Schwimmen, Skifahren, Bergsteigen, Fußball, Hand-
und Basketball -das hat mir beim Tanztraining geholfen.
Aber ich wollte eigentlich Arzt werden." Für
Medizin bekam er jedoch keinen Studienplatz. Der Quereinstieg
über die Chemie - "der ständige Umgang
mit gefahrlichen Schwermetallen"- war ihm zu gefährlich.
Als ihm Freunde in der Disco sagten: "Mensch. du
bewegst dich so toll, beleg' doch mal einen Ballettkurs",
war alles entschieden- Nach einem Anfänger- Kurs
absolvierte er die dreijährige Tanzausbildung bei
Jessica Iwanson. Und regelmäßig Kurse bei
den Sommertanzwochen in Wien. Dann die Begegnung mit
Ko Murobushi. "Ich hatte eigentlich genug von Ballett,
Jazz und Modern Dance, wollte was völlig Neues
machen. In den Butoh-Stunden von Murobushi tat sich
plötzlich eine neue Dimension auf, ein Innenraum,
obwohl er sehr physisch arbeitet. Aber er arbeitet eben
mit dem Atem. Und das führt zu einem Innenraum.
Bei den 'Slow Walks“ zum Beispiel, die ich jetzt
benutze. Man setzt sehr genau Fuß vor Fuß.
immer so, dass die Ferse des einen Fußes wieder
die Zehe des anderen berührt.
Dabei reiben die Innenseiten der Schenkel leicht aneinander.
Man macht die Bewegung relativ mechanisch, aber im Rhythmus
von konzentriertem Atmen. Wenn man so eine Bahn geht,
etwa 12 Meter, man braucht dazu schon 15 Minuten, strömt
Energie ins Zentrum. Das passiert ganz einfach mit einem.
Man kann das auch als bewegte Meditation bezeichnen."
Solos, Gruppenstücke, Workshops. Engagements als
Tänzer bei den Münchner Tanz- und Theatergruppen
Dance Energy und Comedia Opera Instabile, bei Murobushi
oder dem Londoner Man Act. Vor allem immer wieder Performance.
Warum? "Ich möchte neues Publikum rekrutieren.
Bei meinen Performances, die eintritt-frei sind, bekomme
ich das ehrlichste Feedback. Da merke ich auch, dass
mein Tanz etwas bewegt bei den Menschen."
Clea Albrecht, Tanzportät,
Applaus im Februar 1995
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